In letzter Zeit kochen viele alte Erinnerungen in mir hoch. Dabei sind
nicht nur schöne, sondern auch viele schmerzhafte und lange verdrängte. Das mag
mit den allgemeinen Umständen in der Welt, der homöopathischen Therapie, dem
Alter meiner Tochter oder einfach damit zusammenhängen, dass es irgendwann an
der Zeit ist, loszulassen.
Das sind mein Vater und ich.
Ich muss etwa fünf oder sechs sein auf dem Bild. Es war Ostern und wir
gingen in den Wald, um nach Eiern zu suchen. Sieben Jahre später ist mein Vater
bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Ich vermisse ihn. Noch immer. Jeden Tag.
Ich vermisse das Gefühl, dass da jemand ist, zu dem ich aufschauen kann.
Der meine Hand nimmt und mich führt und der den Weg ganz genau kennt. Dass mein
Vater ihn nicht kannte, weiß ich heute auch. Vermutlich hätten wir uns
fürchterlich gezofft, weil ich nicht in sein enges, kleines Weltbild gepasst
hätte.
Heute frage ich mich, ob die Männer, mit denen ich zusammen war, immer
nur eine Art Vaterersatz für mich waren. Ob ich mich angezogen fühlte von dem
Wunsch, etwas Kaputtes - unsere Familie -
wieder herzustellen, „heil zu machen“. Ich weiß die Antwort noch nicht.
Ich frage mich oft, wie ich geworden wäre, wäre mein Vater nicht so früh
verunglückt. Hätte ich studiert? Welchen Beruf hätte ich ergriffen? Fotografin?
Journalistin? Oder doch was sicheres? Eins ist sicher, nicht Archäologin.
Hätte ich Kinder? Wäre ich überhaupt verheiratet? Und wenn ja, mit wem? Wo
würde ich leben?
Ich betrachte zur Zeit oft ein Bild von mir, aufgenommen als ich klein
war, etwa 3 oder vier Jahre. Es entstand an einem sonnigen Tag im Arbeitszimmer
meines Vaters. Ich schaue offen und noch unverdrossen in die Kamera. Etwas, was
ich heute nie tun würde, ich hasse es, fotografiert zu werden. Mein Blick ist
offen und freundlich, irgendwie neugierig. Ich war gespannt darauf, was das
Leben mir zu bieten haben würde.
Doch dann kam dieser Tag im Mai, der alles veränderte.
Die Karriere als Fotografin, das Studium in England, die gesicherte
Zukunft, alles weg. Die Familie, das bisschen Zusammenhalt, das wir hatten,
fort. Von diesem Tag an waren wir Einzelkämpfer, die zusehen mussten, wie sie
überleben.
Sehr viel Konjunktiv in diesen Sätzen. Was hätte gewesen sein können…
Es ist Zeit, das alles gehen zu lassen.
Doch das ist ein Prozess und ich fühle, ich bin dem Kokon, in dem ich
steckte, noch nicht vollständig entwichen. Mancher würde sagen, ich grüble zu viel. Dabei
höre und fühle ich in mich hinein und lasse die Tränen gehen, die ich so lange
Zeit in mir aufbewahrt habe. Dabei bin ich lieber allein, auch wenn ich damit manchmal
den Menschen vor den Kopf stoßen muss, die ich liebe.
Es braucht eben Zeit, bis der Schmetterling nach dem Schlüpfen seine
Flügel entfalten kann.


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