Einige Zeit nach
meiner Diagnose überreichte man mir einen Stapel Broschüren zum Thema MS. Ich
nahm sie mit, packte sie dann aber zuallerunterst in mein Regal. Eines Abends
fand ich, ich sollte den Mut aufbringen, mich den Realitäten zu stellen.
Ich nahm ein
kleines, weiß-blau eingebundenes Buch in die Hand und las die Einleitung.
Niemand könne den Verlauf dieser Erkrankung vorhersagen, stand dort. In manchen
Fällen würde die Krankheit nach einigen Jahren auch einfach verschwinden, ohne
dass man sich erklären könne, wieso.
Den Verlauf nehme
ich, dachte ich mir, klappte das Buch wieder zu und warf es, zusammen mit dem
Stapel an anderen Broschüren, in den Papierkorb.
Noch heute weiß ich
fast nichts über MS, nur das, was wohlmeinende Menschen mir im Laufe der Jahre
meinten erklären zu müssen. Mit dieser Methode bin ich sehr gut gefahren. Es
ist tatsächlich so, was ich nicht weiß, macht mich auch nicht heiß. Ich habe es
abgelehnt, mir über diese Dinge Gedanken zu machen. Also habe ich sie auch
nicht in mein Leben gezogen.
Noch lebhaft habe
ich ein sehr mysteriöses Gespräch mit einer Ärztin in Erinnerung, die mit mir
über meine nicht vorhandenen Blasenprobleme sprechen wollte. Sie erklärte mir
lang und in epischer Breite, dass 80 Prozent aller MS-Patienten daran litten.
Meine Untersuchung hätte aber ergeben, dass nicht nur gefühlt mit meiner Blase
alles in Ordnung sei. „Sie haben da keine Probleme“, führte sie aus. „Aber Sie
wissen ja, es gibt Medikamente.“
Ich bedankte mich
für den Hinweis, suchte allerdings aus den Augenwinkeln den Raum nach einer
versteckten Kamera ab. Was soll ein Hinweis auf ein Symptom, das sich bei mir
gar nicht entwickelt hat? Und zwar auch in über zwanzig Jahren nicht?
Mir ist immer noch
nicht klar, was genau diese Ärztin mit ihrem Gespräch bezweckte. Wollte sie mir
(und auch sich selbst) klarmachen, wie viel Glück ich hatte, zu den 20 Prozent
OHNE Blasenprobleme zu gehören? Wollte sie mich darauf vorbereiten, dass es
sehr wahrscheinlich wäre, dass ich solche Schwierigkeiten noch bekomme (wobei
ich das nach über 20 Jahren irgendwie für unwahrscheinlich halte)? Oder war es
einfach nur das halt übliche, weil in 80 Prozent der Fälle angewendete
Patientengespräch, das sie nur leicht modifizieren musste?
Wir wissen es nicht
und werden es vermutlich nie ergründen. Fakt ist aber, dass die Ärztin, wenn
auch vielleicht eher unbewußt, etwas tat, was man auch als Voodoo in der
modernen Medizin bezeichnen könnte. In ihrem Buch „Mind over medicine“ schreibt
die amerikanische Ärztin Dr. Lissa Rankin:
Fällen wir über unsere Patienten
statistische Urteile nach dem Motto: >>Neun von zehn Patienten mit Ihrer
Krankheit sterben innerhalb von sechs Monaten<<, [….,] sind wir dann so
weit entfernt von den Voodoo-Verwünschungen, wie sie in manchen indigenen
Kulturen ausgesprochen werden?
Gut, ich kenne sie natürlich auch, die
willfährigen Patienten, die sich nach der Diagnose vom Arzt sagen lassen, wann
sie im Rollstuhl landen und das tunlichst auch ausführen. Und ich kenne ein
paar von den anderen, die nicht auf das gehört haben, was der Arzt ihnen
einprogrammieren wollte. Manchen Ärzten scheinen allerdings die Patienten, die
ihren Anordnungen Folge leisten und gefälligst die Symptome entwickeln, die sie
ihnen vorausgesagt haben, lieber zu sein als die anderen.
Wenn wir einen Patienten für >>unheilbar
krank<< erklären und oder ihm auch nur das Etikett einer >>chronischen
Krankheit<< wie Multiple Sklerose, Morbus Chrohn oder Hypertonie
aufdrücken und ihm sagen, dass er für den Rest seines Lebens darunter zu leiden
haben wird, fügen wir ihm damit nicht genau genommen Schaden zu? Welchen Beweis
haben wir dafür, dass er nicht irgendwann in die Spontanheilungs-Datenbank des
Spontaneous Remission Project aufgenommen wird als einer, der eine sogenannte
unheilbare Krankheit überwunden hat?
Was wäre gewesen,
wenn ich nicht diesen einen Satz gelesen und beschlossen hätte, dass meine
Krankheit irgendwann aufhören würde? Wie würde der Krankheitsverlauf von so
vielen anderen aussehen, wenn die Ärzte sie positiv programmieren würden, statt
nur die schlimmstmögliche Version als Mahnmal an die Wand zu malen?
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